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Losar im Land der Schneelöwen

Mein Name ist Nyima, weil ich an einem Sonntag vor fünfundfünfzig Jahren in der Provinz Nguri geboren wurde. Ich lebe in der Gemeinde Purang, das ist im Westen von Tibet. Am liebsten sitze ich vor unserem Haus und schaue in die Weite. Unten in der Ebene glitzert der heilige See Manasarovar. Wenn der Himmel ganz blau ist, sehe ich den Kang Rinpotsche, das Juwel der Schneeberge  zum greifen nah. Er versteckt sich auch gerne in den Wolken. Buddha selbst soll prophezeit haben, dass der Juwelenberg, den man auch Kailash nennt, sein heiliger Ort sei. Vier Flüsse, der Tsangpo, der Indus, der Sutlej und der Karnali entspringen dem Innern des Berges. Auch den Hindus ist der Kang Rinpotsche heilig. Nach ihrem Glauben wohnen Shiva und Parvati auf seinem Gipfel. Meine nepalesischen Freunde haben mir früher immer Geschenke für den heiligen Berg mitgegeben. Ich musste ihnen versprechen, die Gaben zu dem heiligen Berg zu bringen.

Sein rundes Haupt ist auch im Sommer mit Schnee bedeckt. Ich konzentriere meinen Blick immer auf eine Ausbuchtung auf der Seite und stelle mir den inneren Raum des Berges vor. Der Boden ist mit Decken aus Yakwolle bekleidet, die Wände sind mit Gold  ausgeschlagen und mit Juwelen verziert. Auf einem Lotussockel thront Chenrezig. Padmapani Avalokiteshvara, wie viele Chenrezig auch nennen, ist die Schutzgottheit von meinem Land. Er trägt ein Antilopenfell als Symbol seines mitfühlenden Wesens. Wenn ich  mit dem Mantra OM MANI PEME HUM den geistigen Eingang in den Kang Rinpotsche finde, wird mein Geist klar und ruhig.

Im Alter von fünfundzwanzig bis fünfunddreissig war ich jedes Jahr vom Ende des Sommers bis zum Beginn der warmen Zeit in Nepal.
Im sechsten Mond, wenn die Ernte der ganzen Gemeinde eingebracht war, haben wir, mein jüngerer Bruder Jigme und ich, uns über die Pässe Richtung Süden durchgeschlagen. Mehrere Tage zogen wir durch das Gebirge, immer mit der Angst, dass wir in ein Schneetreiben kommen oder dass uns die Grenzpatrouillen erwischen. Die Wintermonde verbrachten wir als Träger für die Trekkingtouren der langnasigen Gelbköpfe. Auch in Nepal mussten wir sehr vorsichtig sein, weil wir keine richtigen Dokumente hatten. Aber die nepalesischen Sherpas haben uns gerne in ihre Reihen geschmuggelt, weil ihre Arbeit dann einfacher wurde. Wir haben uns immer gut um die Yaks gekümmert und die schwersten Lasten getragen. Die Sherpas konnten die Sprache der Gelbköpfe sprechen. Wir verstanden nur wenige Worte und das war gut, für uns war es sicherer, als dumme, stets lachende Tibeter zu gelten. 

Losar, das Neujahrsfest feierten wir damals mit den tibetischen Freunden in Nepal. Wir tranken viel Chang, um die von Heimweh und Sorgen erfüllten Gedanken an die Familie zu vertreiben. Die fünfte Weisung, in der es um die rechte Lebensführung geht, hatte ich wohl nicht immer eingehalten. Oftmals trank ich zuviel Chang und auch das Bier der langnasigen Gelbköpfe schmeckte mir. In dieser Jahreszeit war es nicht möglich über die Schneeberge zurück in die Heimat zu gehen. Wir hatten Arbeit und waren sehr glücklich, dass wir für unsere Dienste bezahlt wurden. Wenn ich traurig war, dachte ich an meine Frau Meto, ihr Namen bedeutet Blume. Sie ist die Blume meines sehnenden Herzens.

Wenn wir im zweiten oder dritten Mond des neuen Jahres in unser Dorf zurück kehrten, wurden wir wie Fürsten empfangen. Gebetsfahnen flatterten im Wind, uns wurden weisse Glücksschleifen umgelegt, alle lachten, drückten, küssten uns und reichten uns das köstlichste Essen. Froh gestimmt vertilgten wir so viele Momos, bis wir Bauchschmerzen bekamen. Die Familie, Nachbarn und Freunde hockten zu unseren Füssen und wir breiteten unsere mitgebrachten Schätze aus. Tagelang besuchten uns die Familien aus dem Dorf und wir durften nicht aufhören, ihnen die wildesten Geschichten zu erzählen. Wenn wir die Langnasen nachmachten, kugelten sich alle vor Lachen.

Einige Tage später gingen wir jedes Mal mit der Familie und Freunden zu dem kleinen Kloster, um uns für Buddhas Segen zu bedanken. Dem Abt brachten wir Geschenke für das Kloster mit und wir überreichten ihm zur Begrüssung weisse Katakhs, die er dann zum Zeichen der Ehre um unseren Nacken legte. Erleichtert und glücklich darüber, mich und meinen Bruder wieder im Haus zu haben, überreichte Meto dem Abt jeweils einen Beutel mit Türkisen.     

Da es schwierig war, in Tibet nepalesische Rupien einzutauschen, kauften wir vor unserer Rückkehr mit der Entlohnung hauptsächlich Silber und Edelsteine. Jede tibetische Frau schmückt sich gerne mit Edelsteinen. An Losar tragen die Frauen die schönsten Kleider und den prachtvollsten Schmuck. Für mich sind die Tibeterinnen die schönsten Frauen.

Unter dem Ziegenstall habe ich zahlreiche Münzen und Edelsteine vergraben. Wenn Kando, meine Tochter, heiraten wird, werde ich ihr fünf oder sechs Yaks kaufen, damit sie immer genügend Yakbutter im Hause hat,  weil wir in Tibet jeden Tag Buttertee trinken.

Vor einem knappen Mond feierten wir wieder Losar. Die Tage davor waren ein wildes Durcheinander. Meto, meine Frau und Kando trugen die ganzen Sachen aus dem Haus. Die Decken wurden ausgeschüttelt, die Truhen wurden ausgeräumt, die Schalen der Talglichter und die Töpfe wurden geschrubbt und poliert. Mit einer Kalkmischung tünchten wir die Wände in einem strahlenden Weiss. Der Altar wurde mit Katakhs aus blütenweisser Seide dekoriert. Während die Frauen im Haus die Speisen vorbereiteten, reparierte und fettete ich die Halsbänder der Ziegen. 

Kando konnte kaum erwarten, ihren Bruder wieder zu sehen. Mit dem Geklingel der Ziegenglocken versuchte sie ihre ungeduldigen Geister zu vertreiben. Dorje war vor vier Jahren mit seinem Freund nach Lhasa gegangen. Er arbeitet bei einem chinesischen Bauunternehmer und Tendsin in einem tibetischen Gasthaus. Dorje und Tendsin haben sich einen chinesisches Feuerstuhl gekauft. Auf dem Foto, das er uns geschickt hat, sitzen Dorje und Tendsin lachend auf dem Motorrad. Im Hintergrund sind moderne chinesische Häuser zu sehen.
Wir vermissen Dorje sehr. Ich wollte nicht, dass er nach Lhasa geht, aber er sagte, dass er nicht wie ein dummer Hirte leben möchte. Als seine Mutter weinte, wandte er sich mir zu, „auch nicht als weiser Wanderer zwischen den erhabenen Bergen.“ Dorje sagte, „lieber ein Jahr wie ein Tiger leben, als tausend Jahre wie ein Schaf.“ Ich schwieg, weil ich mir nicht sicher war, ob das Leben mit den Chinesen in Lhasa oder die Überquerung der Pässe nach Nepal gefährlicher war.

Dorje wollte in Lhasa eine Fachschule für Bautechnik besuchen, aber er wurde nicht angenommen, weil seine Sprachkenntnisse   nicht ausreichten. Han-Chinesisch ist eine wichtige Voraussetzung für die höhere Schule. Wir gehören zu den Drokpa, so nennt man die Nomaden. Viele sind, wie wir, in den letzten Jahren sesshaft geworden. Wir haben uns oberhalb des Dorfes aus Bruchsteinen und Lehm ein Haus mit einem Stall gebaut. Im Sommer gehen die jungen Männer mit den Tieren auf die Weiden. Die Frauen und die älteren Männer helfen im Tal auf den Feldern. Das ist hier oben wichtiger als die Schule. Für die Wintermonde braucht jeder getrocknetes Gras für die Tiere und Gerste für Tsampa. Zum Buttertee wird immer Tsampa, geröstetes Gerstenmehl gereicht. Wir tauchen Tsampa in den Tee und formen mit den Fingern kleine Kugeln, die wir auf der Zunge zergehen lassen.

Als Dorje und Tendsin winkend und rufend den schmalen Weg hoch gerannt kamen, musste ich an Jigme, meinen verstorbenen Bruder denken. Er war genauso mutig, wild und ungeduldig, wie die Beiden. Meto und Kando liefen ihnen entgegen und begrüssten sie. Mit dem Blick auf den heiligen Berg blieb ich sitzen und bat leise um den Segen von Chenrezig.

Später kamen noch die Verwandten meiner Frau, ihre Tante, die jüngere Schwester mit ihrem Mann und ihren drei halbwüchsigen Kindern. Die kleinen Pferde waren schwer bepackt mit Yakdecken, Fellen und Weidenkörben. Neujahr feiern wir am liebsten mit der ganzen Familie. Gemeinsam bauten wir ihr Zelt neben dem Haus auf.

Am Abend vor Neujahr assen wir gemeinsam die traditionelle Suppe mit Guthuks, das sind Taschen aus Teig, die mit neun Köstlichkeiten, wie Rind- und Schaffleisch, getrocknetem Käse, Rüben und Getreide gefüllt werden. Auch Edelsteine, Münzen, Salz, Chilli, Holzkohle werden in die Teigbälle gesteckt. Die ganze Familie sitzt zusammen und jeder entdeckt dann, was er besonderes im Munde findet. Chilli bedeutet, dass dieser Mensch zuviel spricht, Salz und Reis gelten als gute Zeichen, Kohle bedeutet, dass jemand ein schwarzes Herz hat. Für Meto und Kando schmuggelte ich dieses Jahr besonders wertvolle Türkise in den Guthuk. Wir waren alle fröhlich, erzählten uns die Neuigkeiten und lachten während des ganzen Abends.     

Eine Woche nach Losar gingen Dorje und Tendsin nach Lhasa zurück. Nach der Abreise von Dorje und Tendsin war Kando traurig und unruhig, sie weinte oft und wirkte abwesend. Ihre Geheimnisse teilt sie nur mit ihrer Mutter. Während der gemeinsamen Feier im Dorf war mir jedoch nicht entgangen, dass Kando und Tendsin sich oft neckten. Ich hatte gehofft, dass sie sich verbinden. Kando ging mir aus dem Weg und ich getraute mich nicht, sie nach Tendsin zu fragen.

Tendsin wäre der richtige Mann für Kando, die Himmelswandlerin. Seine Mutter entstammt einer guten Familie und wir sind nicht verwandt mit ihnen. Sie bewohnen ein grosses Haus im Dorf mit einer mit Holzschnitzereien verzierten Galerie. Viele Ziegen und Schafe zählen zu ihrem Besitz und Tendsins Mutter versteht es vorzüglich mit der Wolle umzugehen. Sie und ihre drei Töchter weben die feinsten Stoffe in der Region. Ihr Mann und sein Schwiegersohn bauen im Sommer auf den unteren Terrassen Gerste an. Kando ist oft zu Besuch bei der Familie. Sie sucht die Gesellschaft der jungen Frauen. Bei uns fühlt sie sich oft einsam, seitdem Dorje nach Lhasa gegangen ist.

Auch Dorje und Tendsin hatten Geheimnisse. Sie trafen sich mehrmals mit Dagpa, dem Lehrer aus dem Nachbardorf. Dagpa besitzt viele fremde Bücher und als ich ihn einmal fragte, welche Geschichten in den Büchern der Gelbköpfe stehen, sagte er, Geschichten, die erzählen, dass jeder für die Freiheit kämpfen muss.

Drei Wochen nach Losar, an einem sonnigen Morgen packte ich etwas Proviant, Butterlampen, Lehm und Werkzeug in meine Tasche. Der anstrengende Aufstieg zu dem Tschörten beruhigte meinen sorgenvollen Geist. Der Platz hoch über dem Dorf ist ein heiliger Ort. Mit dem Lehm wollte ich die Schäden des Winters an dem Fundament ausbessern. Nächste Woche wird die Dorfgemeinschaft den Tschörten mit weissem Kalk zum leuchten bringen. Tschörten oder Stupas sind Bauten an besonderen Orten, wo die Essenz des Buddha zu spüren ist. Das Umrunden der Tschörten stärkt unseren Geist. Das ist wichtig, damit wir jeden Tag mit neuem Eifer und Zuversicht den achtfachen Pfad gehen.

Oben angekommen, nahm ich als Erstes eine Flasche Chang aus der Tasche und vergoss die Flüssigkeit rund um den Tschörten, dann streute ich eine Handvoll Tsampa in jede Himmelsrichtung. Die Geister waren sicher hungrig nach dem langen Winter. Ich entzündete eine Butterlampe und dachte an meinen Bruder. Jigme war 1989 in Lhasa unter „ungeklärten Umständen“ ums Leben gekommen. Er war damals gerade dreissig Jahre alt. Jigme, dessen Name unsterblich bedeutet. Vielleicht war er jetzt auch ein Hungergeist. Nachdem wir von Jigmes Tod erfahren hatten, gingen wir sofort zum Kloster. Der Lama begann den Geist des Verstorbenen anzurufen und führte eine Stunde lang verschiedene Zeremonien durch, um Jigmes Geist sicher im Bardo, dem Übergang in die andere Welt, zu begleiten. Normalerweise dauern die Bestattungsriten viele Tage. 

In Gedanken an Jigme, benetzte ich den Lehm mit Wasser und strich ihn mit einem flachen Holz auf die schadhaften Stellen. Später umrundete ich den Tschörten acht Mal und warf mich acht Mal nieder. Ob Dorje in Lhasa auch jeden Tag Buddhas Segen für das rechte Verhalten erbat? Ich hatte gefragt, wann er zurückkommen werde. „Ich bin alt und ich wünsche mir, dass mein Sohn und meine Tochter verheiratet sind, wenn ich mein Leben beende.“ Das sagte ich. In meinen Ohren klingt immer noch Dorjes Lachen und seine Worte, „du bist jetzt ein Tiger ohne Zähne.“

Zu Hause erwarteten mich Kando und Meto mit der Nachricht, dass Tendsin verhaftet worden sei. Welches Unrecht er getan habe, fragte ich. Meto zeigte auf  Dagpa. Er erzählte, dass Dorje und Tendsin in Lhasa für ein Freies Tibet demonstriert hatten. Einhundert Personen oder mehr, darunter auch viele Mönche, seien verhaftet worden.

Morgen wollen er, Dagpa und zwei weitere junge Männer nach Lhasa aufbrechen, um Tendsin und Dorje zu suchen. Ich werde mit ihnen gehen. Zu viert werden wir eine starke Einheit bilden, wie der Sockel eines Tschörten.

Lobsang, Tendsins Vater kam zu mir und sagte, dass seine Familie wünsche, dass Meto und Kando, solange ich weg sei, in ihrem Haus leben. Ich drückte Lobsang dankbar die Hände. Lobsang zog ein Bündel Geld aus dem Ärmel und legte es auf die Truhe. Als ich abwehren wollte, sagte er mit Blick auf Kando, „Buddha möchte uns und unsere Kinder glücklich sehen.“

© Cora Thur