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Bescheidene Existenz

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Ich bin ein Momo, ich war immer ein Momo und werde immer ein Momo bleiben. Das Entstehen und Vergehen von uns Momos vollzieht sich in kurzer Zeit und wird in einer Welt ohne Raum und Zeit gespeichert. Meine bescheidene Momo-Existenz liebe ich sehr und geniesse meine Freude am Momo-Sein genauso wie den Genuss, den ich den grossen Wesen bringe. Nur gestern . . . , gestern war nicht mein Tag.
Dabei fing alles gut an. Versteckt in einem Ballen, der aus Mehl und Wasser geknetet wird, war ich noch ungeformt mit den anderen Momos vereint. Wir unterhielten uns über Buddha und die Welt. Vom Ruhen schläfrig geworden, träumten wir unsere Momo-Träume. Alles war immer noch gut, als wir rund und flach, frisch gewalkt und entspannt auf dem Tisch lagen, umlagert von Zwiebeln, Rüben, Ingwer, Chillischoten und fein gehacktem Yakfleisch. Wir scherzten mit dem Gemüse und trösteten das Fleisch. Das Yakfleisch zieht es vor, in grösseren Stücken gebraten und unverhüllt auf der Mitte des Tellers, umgeben von grünen saftigen Gemüsen serviert zu werden. Das können wir gut verstehen und ehrlich gesagt, sind wir auch zufrieden, wenn sich unsere Bäuche  nur mit Kohl, Rüben, Ingwer und Kräutern füllen. Der Duft des Cumin und Koreander kitzelte unsere Nasen und wir schlossen Wetten ab, wer womit gefüllt wird und wer das schönste Momo sein wird. Momos wollen gross dick und fett sein. Ich will gross dick und fett sein.

Endlich ging es los. Gehacktes Yakfleisch vermengt mit Zwiebeln, Kohl, Rüben und Ingwer wurden auf mich, runden flachen Momo-Teig gehäuft. Schlanke kühle Finger klappten meine äusseren Ränder nach oben und drückten sie zu wohlgeformten Ohren. Edel, richtig königlich fühlte ich mich. Ahh, wie angenehm . . ., ich wurde von einem Haarbüschel mit Öl eingepinselt, wer kann sich vorstellen, welcher Genuss das ist. Vor Glücksgefühl hätte ich in die Luft springen können, aber ich beherrschte mich, weil die Gefahr bestand, dass ich beim Aufprall platzen würde.
Genau das war mir dummerweise letzte Woche passiert. Tsomo, das ist unsere beste Freundin mit den feingliedrigen Fingern, die uns immer wieder entstehen lässt, schrie wütend, „Scheisse“ und wischte mich in einen Eimer, wo ich in Einzelteilen zerfleddert unter anderen stinkenden Einzelteilen in einem modernden Vielerlei verschwand. Ich endete im Schweinetrog. Dieses unglückliche vorzeitige Ende war schlicht entwürdigend.

Tsomos zarte kühle Finger strichen nochmals über meinen wohligen Körper, drückten nochmals meine Öhrchen, sagte, „mein allerliebstes kleines Dickerchen,“ und sie legte mich behutsam in einen heissen Topf auf ein rundes Bett, das aus Bambus geflochten ist. Tsomo liebt mich und meine Momo-Schwestern und wir lieben sie und ihr Lächeln. Der heisse Dampf vernebelte meine Sicht und ich lehnte mich entspannt lächelnd zurück. Das ist die wohltuende Zeit, die ich und meine Momo-Schwestern meditierend verbringen und den Buddha des Mitgefühls um eine glückliche Reise bitten.

Dekoriert mit frischem Koriander, einer violetten Orchideenblüte und der knallroten Chillisauce wurden wir auf einem weissen Teller durch den Gastraum getragen. Aus den Augenwinkeln sah ich den golden glänzenden Buddha und mit einem Ruck landete ich leise zitternd auf dem Tisch Nummer 2.
Gleich wird ein Gesicht mit zwei gierig funkelnden Knöpfen über mir erscheinen und ich werde mit harten glänzenden Werkzeugen zerteilt und dann in eine offene runde Höhle geschoben. So oder so ähnlich habe ich alles schon mehrmals erlebt.
Wir sind Momos und die nüchterne Realität ist, dass wir verspeist werden. Unsere runde Masse hilft den Wesen, ihre Rundung in der Mitte zu erhalten und zu stärken. Das wissen wir und wir sind zufrieden mit unserem Schicksal. Nur gestern . . ., das war nun absolut nicht mein Tag.

Ein blasses Gesicht mit kurzen Haarstoppeln beugte sich kurz über mich und zählte mich und meine Schwestern, indem wir mit einem piksenden Ding verschoben wurden. Nacheinander hat uns dieses Wesen zerteilt, aufgespiesst und im Sekundentakt in die runde Höhle geschoben. Von weissen Keramikhauern nachlässig zerbissen, durch eine lange Röhre gewürgt, landeten wir in einer feuchten dunklen Bucht. Kein anerkennendes Wort, kein Spiel und keine Freude wurde uns auf unserem Weg gegönnt. Die Zeit blieb nicht mal, um unseren einmaligen Geschmack zu entfalten. Gierig verschlungen, wie von einem Schwein, stapelten wir uns in diesem engen Magen.

„Was war das denn“, fragte ich traurig. Eine bittere Flüssigkeit überspülte mich und ich musste mich festhalten, um mich nicht ganz aufzulösen.
Eine meiner Momo-Schwestern erregte sich, „dieser Banause.“

„Es wird immer schlimmer.“

„Krass, wie die drauf sind.“

„Ignoranten!“

 „So ein Mistkerl!“, rief ein anderes Momo, „hört mal, was dieses Kartoffelgesicht von sich gibt.“

Wir legten unsere angebissenen Ohren an die Bauchwand und lauschten.

„ . . . es gibt doch nicht nur Tibet. Da müsste man ja auch für Afghanistan, den Irak und weiss Gott für wen eintreten.“

„Ich kann es mir sowieso nicht leisten, nächste Woche habe ich eine Besprechung in Peking.“

„Mein Chef könnte mich sogar entlassen, wenn ich . . ..“

„Ist ja gut gemeint, aber da könnte ja jeder kommen.“

„Immer diese Minderheiten. Was geht mich das eigentlich an?“

Es regnete wieder bittere Flüssigkeit von oben. Ich konnte mich kaum noch halten und sagte mit gurgelnder Stimme, „ich halte diese doofen Sprüche nicht mehr aus.“

„Aber was können wir schon machen?“, seufzte das Momo links von mir.

„Mir reichts,“ schrie erregt ein Momo, „diese Säcke verleiben uns ein und dann wollen sie nichts mehr mit unserer Kultur zu tun haben, „jetzt bin ich aber echt sauer!“

„Anarchie!“, schrie das kleinste Momo, das noch komplett ummantelt war, weil es als Ganzes geschluckt worden war. Dieses kleine zähe Bündel war vital und noch voll klar im Kopf. Wir schönen Dicken waren körperlich aus dem Leim gegangen und geistig etwas angeschlagen.
Das Mini-Momo rief, „rollt euch zusammen und umarmt euch, werdet zu runden Bällen.“ Matt schauten wir nur dumm auf unsere unförmige Breite.
„Jede mit jedem, bewegt euren Hintern, wälzt euch umher, drückt die Flüssigkeit weg und macht euch dick und schwer“, motivierte uns Mini-Momo. Wir drückten und robbten unsere Masse hin und her. Wälzend verklebten wir uns mit den verlorenen Teilen. 

Von oben dröhnte es, „diese chinesischen Ravioli liegen mir schwer auf dem Magen.“

„Chinesische Ravioli,“ japsten wir wütend. Diese beleidigenden Worte machten uns noch wilder und das wehleidige Stöhnen des Kartoffelgesichts spornte unsere Truppe noch mehr an. Vergnügt hüpften und sprangen wir um die Wette. Wir lachten uns Risse in unsere Kugeln und kriegten einen heftigen Schluckauf. Grosse Luftblasen drückten sich nach oben. Sogar der eitle feuerrote Chilli fand Vergnügen an unserem Tanz und rieb sich mit seiner Schärfe lachend an der zarten Magenwand.

Als Momo verging ich mit einem Glücksgefühl, das unbeschreiblich ist. Auf der geistigen Ebene sind wir mit allem auf der Welt verbunden und das fröhliche Lachen von uns Momos verwandelte sich in den ersten Sonnenstrahl des heutigen Tages. 

© Cora Thur